Schattenbild

Die Yamas

Die fünf Yamas (Sanskrit यम, wörtl. «Zügel») aus dem Yoga Sutra, sind Anhaltspunkte oder Werte, die dir helfen können, dein Verhalten gegenüber dir selbst und Anderen einzuschätzen und durch eine gewisse Selbstdisziplin eine ethische Haltung zu kultivieren.

Im Folgenden wird die Bedeutung der einzelnen Yamas beschrieben und wenn du magst, kannst du dir Stift und Papier bereitlegen, um deine eigenen Gedanken zu den verschiedenen Bereichen zu notieren. Es kann sein, dass es ein zu grosser Aufwand ist, alle fünf Yamas auf einmal zu betrachten. Dann konzentriere dich zuerst nur auf einen Aspekt, nimm ihn mit in deinen Alltag und prüfe hin und wieder, wie du dich mit diesem yama fühlst.

ahiṃsā (Gewaltlosigkeit)

Hiṃsā bedeutet Schaden, Gewalt oder Verletzung. «a» ist die Verneinung dieses Begriffes, so dass a-hiṃsā für Gewaltlosigkeit steht. Als ethische Regel fordert ahiṃsā uns dazu auf, keine direkte Gewalt ausüben oder jemanden aktiv zu verletzen. Die Bedeutung des Konzepts geht jedoch weit über das aktive Ausüben von Gewalt hinaus. Es bedeutet ebenfalls, sich nicht mitschuldig zu machen an Gewalt, die andere ausüben und möchte uns dazu anregen unsere Art des Konsums zu überdenken (z.B. Fleischkonsum). Es geht darum, zu überlegen, welche Produkte wir kaufen und ob wir mit unserem Kauf eventuell das Leiden von anderen Menschen oder Tieren unterstützen.

In Bezug auf uns selbst bezeichnet ahiṃsā eine Haltung des Selbstrespektes. Es fordert uns auf uns selbst und unseren Bedürfnissen gegenüber achtsam zu sein, Selbstmitgefühl zu üben, sowie unser Leiden oder unsere Schmerzen ernst zu nehmen und uns darum zu kümmern. Auch Respekt und Freundlichkeit gegenüber anderen trägt dazu bei, dass es uns selbst besser geht.

Gewaltlosigkeit beginnt schon im Geist. Sowohl im Yoga als auch im Buddhismus sind schon Gedanken Handlungen; dem Gedanken folgt die Absicht, der Absicht die Rede und der Rede folgt die Tat. Wenn wir hin und wieder bewusst auf die eigenen Gedanken zu achten, um tiefsitzende negative Einstellungen aufzudecken, können wir erkennen, mit welchen Gedanken wir uns selbst und anderen schaden. Positiv formuliert verhält sich jemand, der ahiṃsā berücksichtigt: tolerant, respektvoll, anerkennend, friedlich, gelassen, bewusst – gegenüber sich selbst und anderen.

Überlege, in welchen Bereichen du dich bereits gewaltlos verhältst und welche Bereiche vielleicht noch mehr Aufmerksamkeit brauchen.

Folgende Fragen können dir vielleicht dabei helfen, deine inneren Einstellungen besser kennenzulernen:

  • In welchen Situationen denke/spreche ich negativ über mich selbst?
  • Wie (in welchem Ton) spreche ich innerlich mit mir selbst?
  • Was sagt mein innerer Kritiker, mein innerer Verteidiger, etc.?
  • Wie spreche ich innerlich über andere?
  • Wo verhalte ich mich verletzend oder beteilige mich (indirekt) an Gewalt?
  • Ist Gewaltlosigkeit ein Wert, den ich schätze und dem ich in meinem Leben mehr Raum geben möchte?

satya (Wahrhaftigkeit, Ehrlichkeit)

Satya, Wahrhaftigkeit bezieht sich auf die Ehrlichkeit der Rede, des Denkens und des Handelns. In der Vorstellung von einer idealen Welt wäre es vielleicht so, dass unsere Kommunikation und unser Handeln unmittelbar miteinander übereinstimmen würden. Im Ideal des authentischen Seins. Aber ist völlige Authentizität tatsächlich erstrebenswert? Sollten oder möchten wir jeden Gedanken, jeden Impuls mit der Welt teilen? Möchten wir das Innenleben jedes Menschen in seinem äusseren Leben verwirklicht sehen?

Tatsächlich ist es ebenso wichtig, sich bewusst zu machen, wo Ehrlichkeit möglich und förderlich ist und wo sie es nicht ist. Wo sollte ich mich nicht an Konventionen halten und meine wahre Meinung sagen? Oder gibt es Situationen in denen es wichtiger ist, einen anderen Menschen nicht zu verletzen?

Ehrlichkeit mit sich selbst ist ein wichtiger Punkt der Wahrhaftigkeit. Schau genau hin und höre in dich hinein. Frage dich, wie es dir wirklich geht, womit du in deinem Leben nicht glücklich oder nicht einverstanden bist und spreche darüber. Mache dir jedoch auch bewusst, dass deine Wahrheit nicht für jeden gültig ist und dass es in der gleichen Situation ganz andere Perspektiven geben kann. Versuche, deinen eigenen Standpunkt ernst zu nehmen und trotzdem für andere Ansichten offen zu bleiben.

Betrachte deine Gedanken und achte darauf, welche Geschichten du dir selbst erzählst – über dich und über Andere. Sind diese Geschichten noch aktuell, helfen sie dir oder belasten sie dich nur?

Frage dich zum Beispiel:

  • Wie sieht eine Situation, mit der du dich gedanklich beschäftigst aus einer anderen Perspektive aus?
  • Ist das, was ich denke wirklich wahr? Ist dies meine Wahrheit oder ist diese Wahrheit auch für andere wichtig?
  • Höre ich wertfrei zu und versuche, nicht sofort zu ver-(urteilen)?
  • Sage ich das, was ich denke auf respektvolle Weise?
  • In welchen Situationen neige ich dazu, bewusst zu lügen? Was macht das mit mir?
  • Gibt es Situationen, in denen ich eine Wahrheit lieber verschweige? Tue ich das aus Angst, aus Mitgefühl oder aus anderen Gründen?
  • Wie gehe ich mit der Unehrlichkeit von anderen um?
  • Erwarte ich Ehrlichkeit von anderen, bin aber selber oft nicht ehrlich?
  • Ist Wahrhaftigkeit ein Wert, den ich schätze und dem ich in meinem Leben mehr Raum geben möchte?

asteya (Nicht-Stehlen)

Asteya bezeichnet eine Haltung, in der ich nichts nehme, was mir nicht gehört (Dinge, Gefühle, Gedanken). Das Konzept regt uns an, nicht in einem ständigen Mangelbewusstsein zu leben, sondern dankbar zu sein, für das was wir haben und für die Freiheit in der wir leben. Es ermuntert uns dazu, weniger auf eine innere Unzufriedenheit (oder die äussere Stimme der Werbung) zu hören, die immer «mehr» will und gierig ist, sondern sich stattdessen in Zufriedenheit zu üben.

Asteya bedeutet auch, verantwortungsvoll mit geistigem Eigentum umzugehen und verantwortungsvoll einzukaufen, ohne Menschen oder Tiere auszubeuten oder ihnen etwas wegzunehmen, das für sie lebensnotwendig ist.

Überlege, wo du schon bewusst einkaufst, dankbar bist oder etwas gibst, ohne eine Gegenleistung zu erwarten und an welcher Stelle du noch achtsamer handeln könntest.

Fragen, die man sich zu asteya stellen kann, sind z.B.:

  • Wo habe ich in der Vergangenheit egoistisch gehandelt und eventuell anderen geschadet, ohne dass es mir bewusst war?
  • Nutze ich Ideen von anderen, ohne die Herkunft offenzulegen?
  • Hinter welchen Produkten die ich kaufe, stehen z.B. Kinderarbeit, unfaire Löhne oder andere Formen der Ausbeutung?
  • Wann lebe ich im Modus des Habens (oder Haben-wollens) und wann lebe ich eher im Modus des Seins? In welchen Situationen geht es mir besser?
  • Ist Nicht-Stehlen ein Wert den ich schätze und dem ich in meinem Leben mehr Raum geben möchte?

brahmacarya (sich auf Brahman zubewegen; richtiges Nutzen von Energie; sexuelle Zurückhaltung)

Brahman ist eine Bezeichnung für das Göttliche, carya ist das Verhalten, die Aktivität. Im Yoga wurde und wird brahmacarya häufig als Enthaltsamkeit oder sogar Askese übersetzt. Diese Interpretation ergibt sich aus der Vorstellung, dass es leichter ist, sich dem Göttlichen zu nähern, wenn man in einer Gemeinschaft lebt, die sich bestimmten Regeln unterwirft.

Tatsächlich wird aber schon lange anerkannt, dass es auch ohne Enthaltsamkeit, in der Familie oder in der Partnerschaft möglich ist, spirituell zu leben. Im Buddhismus ist der mittlere Weg eine Metapher für eine ganzheitliche Lebensweise, die auf alle extremen Handlungen verzichtet (zu viel oder zu wenig essen, zu viel kaufen, zu viel Stress, zu wenig Pausen…) und so durch äussere Balance in die innere Mitte führt. Dieses Prinzip wird auch in der Bhagavad Gita beschrieben; einem der bedeutenden Texte im Yoga und im Hinduismus.

Brahmacarya kann also besser als Bewegung hin zu einem göttlichen oder umfassenden Prinzip interpretiert werden, wie es in der Chandogya Upanishad (chāndogyopaniṣad) beschrieben wird. Es ist ein Prinzip der Verbundenheit, des Respekts und Rücksichtnahme – auf sich selbst und auf andere.

 

Versuche, deinen Blick auf Gemeinsamkeiten mit anderen zu richten und auf das, was dich nährt. Versuche herauszufinden, was dir gut tut (es ist nicht immer das, was du unbedingt möchtest oder was angenehm ist) und was dich fördert, aber auch fordert.

 

Fragen in Bezug auf brahmacarya können sein:

  • Bin ich in der Lage, Situationen mit allen Sinnen zu geniessen, ohne andere auszunutzen?
  • Begegne ich anderen Menschen mit Respekt und sehe sie als ein Teil des Ganzen an?
  • Wer oder was bin ich wirklich?
  • Gibt es ein inneres Selbst?
  • Ist brahmacarya ein Wert, den ich schätze und den ich in mein Leben integrieren möchte?

aparigraha (Nicht-Anhaften)

Aparigraha ist ein Konzept, das sich mit Gier und Abneigung auseinandersetzt. Es geht darum, nicht immer nur haben zu wollen oder nur Angenehmes empfinden zu wollen; die ständige Veränderung im Leben anzuerkennen; Dinge und Situationen nicht festhalten zu wollen, oder negative Aspekte nicht unbedingt vermeiden zu wollen. Das Wesen des Lebens ist ein Kommen und Gehen; ein Fliessen des Seins. Angenehmes kommt und geht, aber auch Unangenehmes kommt und geht wieder. Aparigraha ist ein Aufruf zum Leben in diesem Moment – nicht zu viel in der Vergangenheit oder der Zukunft zu verweilen oder sich mit dem zu beschäftigen, was andere tun, besitzen und erwarten. Eine Aufforderung, Erwartungen loszulassen.

Miste aus, was du nicht mehr brauchst. Überlege gut, bevor du dir etwas Neues kaufst. Nimm dir jeden Tag ein wenig Zeit, um in diesem einen Moment zu sein – ganz bei dir. Versuche, jedes Gefühl, das du spürst, bewusst wahrzunehmen und zu akzeptieren (es wird wieder vergehen – egal ob du es als positiv oder negativ empfindest).

 

Fragen, die mit aparigraha in Verbindung stehen:

  • Bin ich manchmal (oder oft) neidisch auf andere? Was steckt dahinter? Was wünsche ich mir wirklich (im Innersten)?
  • Woran halte ich fest, ohne dass ich es noch brauche (Dinge, Gewohnheiten…)?
  • Wann denke ich in Konjunktiven (ich sollte…; hätte ich doch…; wenn doch nur…)?
  • Welche Bilder, die ich von mir selbst oder meinen Rollen im Leben habe, sind heute nicht mehr förderlich?
  • Was macht mich zufrieden?
  • Ist aparigraha ein Wert, den ich in mein Leben integrieren möchte?