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Authentisch leben

Ist das noch möglich?

Wie authentisch können Menschen leben, wenn sie dazugehören möchten und akzeptiert werden wollen? Auch wenn es uns so vorkommen mag, als sei in unserer Gesellschaft individuelle Entfaltung für alle möglich, wird bei einem genaueren Blick schnell deutlich, dass sich die Möglichkeiten selbstreguliert zu denken, zu fühlen und zu handeln sehr häufig an einem recht kleinen Ort befinden.

Dem Psychologen, Humanisten und Philosophen Erich Fromm war schon vor 84! Jahren klar, dass das Menschsein in unserer westlichen Welt zum grossen Teil nicht von Freiheit und Selbstsein bestimmt ist, sondern vom Markt und dem Erfolg der Einzelnen beim Verkauf ihrer Persönlichkeit. Was Fromm damals erkannt hat, hat sich über die Jahre nicht verändert, sondern ist im Zeitalter der sozialen Medien noch offensichtlicher geworden.

Erich Fromms Gedanken sind auch heute noch aktuell und dringlich. Denn die Gefahr von der eigenen sozialen Gruppe isoliert zu werden, wird offenbar als riskanter und grösser empfunden, als die Gefahr sich selbst zu verlieren. Aus Angst nicht mehr dazuzugehören passt «man» sich an, macht es wie alle; macht, was erwartet wird. Kleidung wird zur Uniform, gleichförmig schwarz, grau und beige. Behausungen werden zu «Schuhschachteln» aus Beton.

Es gibt einen Zwang zu Gleichheit und Gleichartigkeit, der einsam macht

Doch auch dort wo Menschen sich von der Masse unterscheiden wollen, bunter oder auch einfacher leben möchten, gibt es strikte Regeln dafür, wie jemand sein muss, welche Dinge gekauft werden oder eben nicht gekauft werden dürfen, wenn man dazugehören will. Im Äusseren gewinnt häufig ein Drang nach Gleichheit und Übereinstimmung.

Doch leider bleibt diese Gleichheit nicht nur im Äusseren. Wie Fromm feststellt, «wird unter Gleichheit meistens Gleichartigkeit verstanden: Gleich sein bedeutet soviel wie sich nicht unterscheiden. Ja, man geht sogar noch weiter und argumentiert: Wenn du gleichberechtigt sein willst, musst du gleich sein wie die anderen; bist du es nicht, dann bist du auch nicht gleichberechtigt. Viele gehen heute lieber mit anderen freiwillig konform, als dass sie dazu gezwungen würden.»

Dieser Zwang und Drang zur Gleichheit haben fatale Folgen. Wir sind nicht mehr in der Lage spontan zu handeln und deutlich auszudrücken, was wir fühlen und denken. «Der Mensch erlebt sich selbst, seine Überzeugungen, seine Gefühle nicht mehr als etwas Eigenes. Er fühlt sich mit sich identisch, wenn er sich nicht mehr von den anderen unterscheidet. Passt er sich ihnen aber nicht an, so fühlt er sich von einer schrecklichen Einsamkeit bedroht und läuft Gefahr, aus der Gruppe ausgestossen zu werden.» Widersprüche, Mehrdeutigkeiten und Abweichungen werden als unangenehm und bedrohlich empfunden, anstatt sie als Bereicherung zu sehen, die das Leben bunter und interessanter machen.

Eine solche Entwicklung führt im harmloseren Fall zu Langeweile und einer Flucht in (digitale) Scheinwelten. In schlimmeren Fällen führt sie zu Depressionen und sozialer Isolation. Eine Situation, die den inneren Druck nach Anpassung noch mehr verstärkt. Durch diesen Teufelskreis entstehen Gesellschaften, in denen soziale Kontakte eingeschränkt sind, Menschen sich nicht mehr wohlfühlen und zunehmend unglücklicher werden. Die deutschsprachige Schweiz ist ein Beispiel für eine äusserlich wohlhabende Gesellschaft, in der eine enge soziale Verbundenheit spürbar und messbar reduziert ist und besonders Kinder von Ausgrenzung, sowie von emotionalem Stress betroffen sind.

"Leben statt gelebt zu werden" - mehr sein statt nur zu haben

Für Erich Fromm liegt die Lösung darin, den Mut aufzubringen mehr zu sein und sich weniger abzulenken. Sich selbst, seine Gedanken und Gefühle ernst zu nehmen; sie wirklich wahrzunehmen, auch wenn sie unangenehm sein mögen. Auch die Anderen wirklich zu spüren. Zu spüren, was andere Menschen innerlich bewegt und beschäftigt.

Authentisch zu leben bedeutet für Fromm die Bereitschaft «täglich neu geboren zu werden». Das Leben in jedem positiven und negativen Moment zu erfahren. Es bedeutet, den Unterschied zwischen aufgesetzten Meinungen und der eigenen, inneren Wahrheit zu suchen. Die vermeintliche Sicherheit des Dazugehörens aufzugeben und «Konflikte und Spannungen zu akzeptieren», die sich aus den Widersprüchen des Lebens ergeben.

Und es bedeutet, sich nicht an Dinge, Personen oder Vorstellungen von sich selbst zu klammern, sie haben zu wollen und sie als eine Garantie für Sicherheit und Glück zu betrachten. In diesem Sinne authentisch zu leben, bedeutet kreativ und schöpferisch zu sein, das Leben in seiner ganzen Intensität zu lieben; «sich am Sein zu erfreuen anstatt am Tun, am Haben oder am Gebrauchen» - eine grosse Herausforderung und ein seltenes Gut. Eine Voraussetzung dafür ist die "Fähigkeit des Staunens", die Kinder noch besitzen und die die meisten Menschen während ihrer Erziehung verlieren.

Eine andere Voraussetzung, um authentisch zu leben, ist die "Kraft, sich zu konzentrieren", die verloren geht, wenn zu viele Dinge gleichzeitig getan werden. Diese Kraft kann mit der Meditation gewonnen werden. Fromm war selbst ein Mensch, der regelmässig meditiert und dadurch die "Fähigkeit zur Selbst-Erfahrung" gewonnen hat.

Eine optimale Balance zwischen Einzigartigkeit und Verbundenheit

Fromms Arbeiten werden durch zahlreiche Forschungen der letzten Jahrzehnte - vor allem im Bereich der positiven Psychologie - gestützt. Menschen haben ein tiefes Bedürfnis nach Einzigartigkeit, das nicht durch eine bestimmte Kultur geprägt wird, sondern für alle Menschen gültig ist. Gleichzeitig haben sie ein Bedürfnis nach Verbundenheit. Beide Bedürfnisse müssen optimal in Balance sein, damit ein Mensch ein gutes und sinnerfülltes Leben führen kann.

Wie diese optimale Balance aussieht, ist individuell und kulturell unterschiedlich. Doch wenn eine Gesellschaft in der Lage ist, Verschiedenheit zu tolerieren, wird eine grössere Anzahl von Menschen die Möglichkeit und die Freiheit haben, ihre Bedürfnisse und ihr einzigartiges Sein erkennen zu können. Von einer solchen Entwicklung würde jede Gesellschaft profitieren, denn die Akzeptanz von Einzigartigkeit steigert nicht nur Zufriedenheit und Gesundheit, sondern auch Kreativität und Kooperation.

Es gibt Länder auf der Welt, in denen sich ein grosser Anteil der Bevölkerung respektiert fühlt, regelmässig Freude empfindet, lacht und sich persönlich weiterentwickelt. Ein Grossteil dieser Länder liegt jedoch nicht auf den westlichen Kontinenten, sondern in Lateinamerika - wie der Global Emotions Report 2019 von Gallup zeigt. Mögen auch die Menschen in Lateinamerika ihren Lebensstandard generell als weniger gut einschätzen, emotional scheint es ihnen in vielerlei Hinsicht sehr gut zu gehen.


Quellen:

Markus Freitag - Schweizer Welten des Sozialkapitals. Empirische Untersuchungen zum sozialen Leben in Regionen und Kantonen; Swiss Political Science Review 10(2): 87-118

Erich Fromm - Lieben wir das Leben noch?; dtv 2020 (Hrsg. Rainer Funk)

Erich Fromm - Haben oder Sein. Die seelischen Grundlagen einer neuen Gesellschaft; dtv 2019

Erich Fromm - Authentisch leben; Herder Verlag 2017 (Hrsg. Rainer Funk)

Erich Fromm - Die Kunst des Liebens; Ullstein Verlag, 1980

Gallup - Global Emotions Report 2019; https://www.gallup.com/analytics/248906/gallup-global-emotions-report-2019.aspx

Abigail A. Mengers - The Benefit of Being Yourself: An Examination of Authenticity, Uniqueness, and Well-Being; Master of Applied Positive Psychology (MAPP) Capstone Projects. 63; 2014; http://repository.upenn.edu/mapp_capstone/63

https://www.unicef.ch/de/unsere-arbeit/schweiz-liechtenstein/kinderrechte/studie


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Shlomo Shalev on Unsplash

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