Faszien umhüllen unseren gesamten Körper mit allen Organen wie ein grosses, form- und schutzgebendes Netz.
Dieses körperformende Netz der Faszien entsteht während der Entwicklung des Embryos ungefähr in der zweiten Woche nach der Befruchtung der Eizelle. Im komplexen Verlauf der embryonalen Entwicklung dehnt es sich aus, verändert sich, faltet sich auf und integriert nach und nach alle Strukturen des menschlichen Körpers - Knochen, Muskeln, Organe.
Der menschliche Körper ist also nicht aus einzelnen Teilen zusammengefügt, sondern formt sich innerhalb des Fasziennetzes in einem komplexen individuellen Zusammenspiel aus den Einflüssen der Gene und der Umweltbedingungen.
Das Fasziennetz ist vom Anfang der Entwicklung bis zum Tod des Menschen ein unteilbares Ganzes, das die Form des Menschen bewahrt, Organe und Strukturen zusammenhält und miteinander verbindet.
Innerhalb dieses Gewebe-Netzes bilden sich funktionelle Einheiten von Muskeln und bindegewebigen Strukturen, bzw. Faszien, die in der Koordination von bestimmten Bewegungen zusammenspielen.
In der Bewegung funktionieren unsere Muskeln also nicht als getrennte Organe; statt dessen sind sie über das Fasziennetz miteinander verbunden und durchziehen den Körper als einheitliche Spannungslinien.
Diese myofaszialen Leitbahnen oder Muskel-Faszien-Ketten verbinden das „Gerüst“ der Knochen von oben nach unten, von einer Seite zur anderen und in spiraliger Verschraubung. Durch die spezielle Kombination von festen Knochenstrukturen und elastischen Verbindungslinien entsteht ein flexibles und sehr anpassungsfähiges System der Beweglichkeit.
Das dynamische Faszien-Muskel-System reagiert immer als Ganzes auf Bewegungsmuster: aktivieren wir einen bestimmten Muskel, wirkt sich das über die Faszienketten auch auf andere, verbundene Körperbereiche aus.
Oberflächliche Frontallinie, Oberflächliche Rückenlinie und Laterallinie (v. li. n. re.)
Sobald wir also bestimmte Haltungsmuster entwickeln, die unseren Körper immer wieder in ein Ungleichgewicht bringen, passt sich das ganze System an dieses Muster an und versucht ein neues Gleichgewicht zu schaffen. So können Fehlhaltungen entstehen, die sich auf den ganzen Körper auswirken. Und Schmerzen können an Orten auftauchen, die weit vom Ursprung der Fehlhaltung entfernt sind.
Geht es nun darum, negative und Schmerzen verursachende Haltungsmuster zu verändern, ist es von Vorteil, den Verlauf der Muskel-Faszien-Ketten zu kennen, um die Koordination innerhalb der gesamten Kette verbessern zu können und den Körper in seiner selbstregulierenden Fähigkeit zu unterstützen.
Nicht nur in der therapeutischen Anwendung ist das Wissen um die myofaszialen Linien von Vorteil. Das Bewusstsein der Verbundenheit von Körperstrukturen kann auch dem Yoga-Übenden helfen, in den Asanas ein neues Empfinden von Ganzheit zu entwickeln und die Präsenz in der Körperhaltung zu erweitern.
Anatomisches Wissen und unmittelbare Körperwahrnehmung können sich so ideal ergänzen, um mit Achtsamkeit zu üben. Ebenso wie in diesem Beispiel, kann die Ausrichtung auf die Muskel-Faszien-Ketten auch in jedem anderen Asana genutzt werden, um die Körperwahrnehmung auszurichten und zu intensivieren. Es braucht lediglich etwas Zeit und Konzentration.
Spirallinien, Armlinien, Tiefe Frontallinie (v. li. n. re.)
Funktionelle Linien
Joanne Sarah Avison - Yoga. Fascia, Anatomy and Movement. Handspring Pub. Ltd., 2015
Thomas Myers, James Earls - Faszien-Release zur Verbesserung der Körperhaltung: Für Beweglichkeit, Stabilität und Schmerzfreiheit. Riva Vlg., 2015